Digitalisierung in der Lehrerbildung Tübingen (TüDiLB)
Zentrum für Forschung und Transfer

Ein Verbund der Universität Tübingen und des Leibniz-Instituts für Wissensmedien.

Wie gefährlich sind soziale Medien wirklich?

Soziale Medien oder social Media gelten heutzutage als fester Bestandteil in der Lebenswelt von Jugendlichen. So nutzen 92% der 12-18 jährigen täglich oder mehrmals die Woche social Media (JIM Studie, 2021). Dieser Nutzungshäufigkeit gegenüber werden sehr häufig Bedenken geäußert. Doch wie gefährlich sind soziale Medien für Jugendliche wirklich? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Metaanalyse von Vannucci, Simpson, Gagnon und McCauley Ohannessian (2020), in der der Zusammenhang zwischen riskantem Verhalten und dem Gebrauch sozialer Medien untersucht wird.

Was sind soziale Medien und riskantes Verhalten?

Soziale Medien dienen der sozialen Vernetzung von Nutzerinnen und Nutzern (Vanucci et al. 2020). Beispiele für soziale Medien sind Webseiten und Apps, auf denen mit anderen Menschen interagiert werden kann. Dazu zählen Blogs, Diskussionsforen, Chats oder Foto- und Videoplattformen wie Instagram, WhatsApp, TikTok etc., bei denen Inhalte geteilt und Profile erstellt werden können.

Vanucci und Kolleginnen (2020) unterscheiden zwischen drei verschiedenen Bereichen, die als riskante Verhaltensweisen kategorisiert werden können: Substanzmissbrauch (z. B. übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum), riskantes sexuelles Verhalten (z. B. häufig wechselnde Partner*nnen) und gewalttätige Handlungen (z. B. körperliche Kampfhandlungen).

Was sagen Lehrkräfte zum Zusammenhang sozialer Medien und riskantem Verhalten?

Nicht selten hört man, dass die Verantwortung der Lehrkraft an der Schultürschwelle aufhört und damit die Freizeit der Schülerinnen und Schüler für Lehrkräfte uninteressant ist. Damit scheint auch das Thema der sozialen Medien für Lehrkräfte wenig Relevanz zu haben. Gerade wenn es um die Nutzung sozialer Medien geht, scheint das jedoch ein Trugschluss zu sein. Negative Auswirkungen der Nutzung, beschränken sich nicht auf den außerschulischen Bereich, sondern beeinflussen auch das Verhalten von Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Hierzu zählen etwa ein verfälschtes Selbstbild und die starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Auf diese Weise ist auch die Lehrkraft im Unterricht mit den Auswirkungen von der Nutzung sozialer Medien konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit sozialen Medien ist für Lehrkräfte nicht nur deshalb relevant, weil so die Aufmerksamkeit für solche Auswirkungen geschult wird, sondern auch deshalb, weil Lehrkräfte aktiv den Umgang mit sozialen Medien im Unterricht thematisieren können.

Warum ist der Zusammenhang zwischen sozialen Medien und riskantem Verhalten relevant?

Das Thema der sozialen Medien genießt in der Gesellschaft viel Aufmerksamkeit. Über 90% aller Jugendlichen nutzen mindestens eine soziale Plattform täglich für etwa drei Stunden (Vanucci et al., 2020). Die Auseinandersetzung mit den medial geteilten Inhalten ist Teil ihrer Identität, deren Autonomie, deren Peer-Beziehungen sowie deren Sexualität. Ein Blick in verschiedene Onlineforen verrät, dass sich vor allem Eltern um das Wohlbefinden ihrer Kinder sorgen. Besonders der Drang nach Bestätigung über das Handy, dadurch ausgelöste Selbstzweifel und deren Auswirkungen auf die Gefühlswelt der Jugendlichen beschäftigen die Eltern sehr (Feibel 2019). Die Metaanalyse von Vanucci und Kolleginnen (2020) ist die erste Metaanalyse, die den konkreten Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und riskanten Verhaltensweisen Jugendlicher untersucht, um herauszufinden, ob die allgemeine Sorge um jugendliche Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien berechtigt ist.


Das Review ❯❯

Das Review

Nutzung sozialer Medien und risikoreiches Verhalten bei Heranwachsenden: Eine Meta-Analyse (von Vannucci, Simpson, Gagnona und McCauley Ohannessiana, 2020)

In der Metaanalyse wird der Zusammenhang zwischen riskantem Verhalten, und dem Gebrauch sozialer Medien untersucht.

Was wird untersucht?

In der Metaanalyse wurden 27 unabhängige Primärstudien mit insgesamt 67.407 Jugendlichen. Hierbei wurden die Daten anhand von Selbsteinschätzungsbögen/ Fragebögen & Elternbefragungen erhoben. Ziel der Metaanalyse war es zum einen, den Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und riskantem Verhalten im Jugendalter aufzuzeigen. Zum anderen wurde untersucht, inwiefern die Ergebnisse davon abhängig sind, welche Messmethode für “Riskantes Verhalten” (Selbstberichte, Berichte von Eltern, etc.) und “Nutzung sozialer Medien” (Selbstberichte, Log-Daten aus Apps) herangezogen wurde.

Kontext der Studien

Geschlechterverteilung
Alter

zwischen 12- 18 im Mittel 15,5

Region
Themen
?
Keine Angaben im Review/nicht relevant.

Forschungsfragen und Ergebnisse

Wie hängt riskantes sexuelles Verhalten mit der Nutzung sozialer Medien zusammen?

Über alle Studien hinweg ergab sich ein schwacher bis mittelstarker Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und einem riskanten sexuellen Verhalten. Bei jüngeren (12 Jahre) war dieser Zusammenhang größer als bei älteren (15 oder 18 Jahre) Jugendlichen.

Wie hängt Substanzmissbrauch mit der Nutzung sozialer Medien zusammen?

Über alle Studien hinweg ergab sich ein schwacher bis mittelstarker Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und dem Missbrauch von Substanzen. Der Zusammenhang war stärker, wenn ein breiteres Verständnis sozialer Medien angelegt wurde (z.B. Instagram, Messenger) und unter sozialen Medien nicht nur klassische Plattformen wie Facebook verstanden wurde.

Wie hängt gewaltbezogenes Verhalten mit der Nutzung sozialer Medien zusammen?

Aufgrund der geringen Anzahl verfügbarer Studien (n=3), welche den Zusammenhang zwischen gewaltbezogenem Verhalten und der Nutzung sozialer Medien untersuchten, ist die Beurteilungslage uneindeutig. Die bestehenden Studien zeigten einen schwachen bis mittelstarken Zusammenhang.

Tiefergehende Informationen für Fortgeschrittene

Qualität des Reviews

    Was überzeugt?
  • Es wurden ausgehend von strengen Kriterien nur Primärstudien von hoher Qualität aufgenommen.
  • Durch die Offenlegung der Daten und Forschungsmaterialien ist eine hohe Transparenz gegeben in Bezug auf die Vorgehensweise und die Untersuchung der Primärstudien.
  • Ein Publikations-Bias durch evtl. vorhandene Bevorzugungen bestimmter Primärstudien wurde anhand der sog. trim-and-fill Methode untersucht und widerlegt.
    Was muss beachtet werden?
  • Die Metaanalyse untersucht Zusammenhänge und nicht die Wirkungen sozialer Medien auf riskantes Verhalten. Die Ergebnisse zu den Zusammenhängen könnten einerseits durch die Auswirkung sozialer Medien auf riskantes Verhalten zustande kommen, genauso gut könnte aber riskantes Verhalten sich auf die Nutzung sozialer Medien auswirken. Möglich ist auch, dass sich beide Aspekte gegenseitig beeinflussen oder in Wahrheit gar nicht voneinander abhängen. Im letzteren Fall würden beide Aspekte von einem weiteren Merkmal (z.B. sozial-ökonomischer Status) gleichmäßig beeinflusst. Eine Aussage auf Basis der vorliegenden Daten ist schwierig bis unmöglich.
  • Die Metaanalyse findet lediglich Studien, die retrospektive Selbsteinschätzungen betrachten und keine objektiven Daten (wie z.B. Log-Daten aus Apps) erhebt. Wie exakt oder verzerrt diese Daten sind ist schwer zu beurteilen.
  • Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum müsste diskutiert werden, da ein Großteil der ausgewählten Primärstudien aus dem englischsprachigen Raum stammt.

Detaillierte Evaluation


Implikationen für die Praxis ❯❯
Quelle

Vannucci, A., Simpson, E. G., Gagnon, S., & Ohannessian, C. M. (2020). Soziale Medien use and risky behaviors in adolescents: A meta-analysis. Journal of Adolescence, 79, 258-274. https://doi.org/10.1016/j.adolescence.2020.01.014

Was bedeutet der Zusammenhang zwischen sozialen Medien und riskantem Verhalten für das Schulleben?

Zunächst können die Ergebnisse der Metaanalyse die Bedenken der Eltern und Lehrkräften etwas abfedern. Entgegen der populären Meinung findet die Metaanalyse nur schwache bis mittelstarke Effekte zwischen riskanten Verhaltensweisen (Substanzmissbrauch bzw. riskantes sexuelles Verhalten) und der Nutzung von sozialen Medien. Auch wenn die Wirkungsrichtung nicht abschließend geklärt ist (siehe Abschnitt “Tiefergehende Informationen für Fortgeschrittene”), so kann doch festgehalten werden, dass zumindest keine Hinweise auf einen starken Zusammenhang zwischen riskantem Verhalten und der Nutzung sozialer Medien vorliegen.
Die Metaanalyse kann als Startpunkt für ein neues Bewusstsein dessen dienen, dass soziale Medien nicht nur Gefahren bergen. Der Umgang mit sozialen Medien kann geschult werden und so bieten sich auch viele Chancen durch die Nutzung sozialer Medien, auch im Schulkontext. So können soziale Medien an der Schule u. a. zur Vernetzung dienen (siehe Beispiele).

Inhaltliche Einordnung

Viele Studien legen einen Fokus auf den negativen Einfluss (Annahme einer Wirkung) von sozialen Medien (z.B. Abi-Jaoude et al. 2020, Elsayed 2021). Dazu zählt auch die vorliegende Metaanalyse in der als negativer Einfluss konkret riskantes Verhalten im Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Medien eingangs theoretisiert und untersucht wird. Untersucht wird in der Metaanalyse allerdings der Zusammenhang (gleichzeitiges Auftreten) und nicht die Wirkung sozialer Medien (z.B. durch experimentelle Studien). Die Ergebnisse zeigen, dass nur schwache Zusammenhänge ausgemacht werden können. Neben einigen Studien, die ein ausgewogenes Bild über Gefahren sowie Vorteile der Nutzung sozialer Medien zeichnen (z.B. Akram & Kumar 2017) gibt es nur wenige, die sich ausschließlich auf die Chancen konzentrieren, die aus der Nutzung sozialer Medien, insbesondere im Schulkontext, entstehen (z.B. Jackson 2011).

Zitation

Herrmann, J., Sailer, H., Holzwarth, S., Schneider, J., Breil, P. & Lachner, A. (2022). Soziale Medien und riskantes Verhalten. Bibliothek aufbereiteter Forschungssynthesen Tübingen (TüDi-BASE). https://www.tuedilb-tuebingen.de/soziale-medien.html